Presse

Vertrauen in das kleine Format

Neustart des Kammermusikfestes Lübeck

Vor mehr als drei Dekaden gründete die Pianistin Prof. Evelinde Trenkner (1933 – 2021) mit ihrem Ehemann Hermann Boie (1935 – 2016) die Xaver und Philipp-Scharwenka Gesellschaft e.V. und wagten nahezu zeitgleich ein mit Bezug auf die genannten Komponistenbrüder programmiertes Kammermusikfest in Lübeck zu veranstalten, das sie sehr persönlich prägten. Nachdem 2022 dieses nun auch international etablierte Festival ein letztes Mal, zu ihrem Gedenken, stattgefunden hatte, war die Frage, ob es eine Nachfolge geben würde, noch unbeantwortet.

Bei den regulären Versammlungen der Scharwenka-Gesellschaft stellte sich schließlich heraus, dass Jürgen Feldhoff, einst Kulturredakteur der Lübecker Nachrichten und Moderator, für den Vorsitz kandidierte und gewählt wurde. Mit seiner Amtsübernahme wurde verkündet, dass weiterhin ein dreitägiges Kammermusikfest im Kolosseum zu Lübeck in Planung sei. Die Aufgabe und Verantwortung für die Organisation teilt sich Jürgen Feldhoff mit seiner Ehefrau Svea Regine und Prof. Bernd Ruf (Musikhochschule Lübeck) als künstlerischem Leiter. Die Terminierung wurde in diesem Jahr vom zuvor üblichen Himmelfahrtwochenende auf das erste Wochenende nach Pfingsten, 2. bis 4. Juni 2023, verlegt.

Geblieben sind das Vertrauen ins kleine Format, die Frequenz von zwei Konzerten pro Abend und die Typik, dass man mit Repertoire für Klavier zu vier Händen (früher: Trenkner/Speidel) beginnt: Susanna De Secondi und Elias Opferkuch (das Oskar Duo) empfanden dabei keine Bürde aus der Vergangenheit, sondern präsentierten transkribierte Exzerpte des „Actus Tragicus“ und der Kantate „Schafe können sicher weiden“ von Johann Sebastian Bach als poetische Preziosen. Freundlich das „Divertissement sur des motifs originaux français“ von Franz Schubert, grazioso-elegant das Allegro der Sonate C-Dur von Wolfgang Amadeus Mozart, munter die „Idylle für Gretchen“ vom Zeitgenossen Dan Dediu und en bravura die knisternde asymmetrische Rhythmik der „Petruschka-Suite“ von Igor Strawinsky. Eine klasse Darbietung dieser noch jungen Solisten.

Das Morgenstern Trio (nomen est omen) konfrontierte zwei Orbits aus der postromantischen Planeten-Suite von Gustav Holst (Arrangements: Georg Oyen) mit zeitgenössischen Reflexionen: dem martialisch-krassen Drang seines „Mars“ entgegnete Thomas Blomenkamp mit einem Torso der „Paysages de Mars“, die das Morgenstern Trio in grellen und doch fragilen Sounds darstellten. Die friedliche „Venus“ zeigte sich sphärisch-ätherisch, ebenso das Pendant „Eosphoros und Hesperos“ der Koranerin Eun-Hwa Cho, trotz Unruhe im Partikel-Fluidum – durchaus verwegene Korrespondenzen zwischen historischem Original und den dankenswerterweise vom Morgenstern Trio beauftragten Kompositionen.

Das zweite Doppel führte zurück zur sogenannten Kaiserzeit (1870 – 1918), einst wie jetzt eine Referenzepoche des Festivals: die Mezzo-Sopranistin Juliane Sandberger sang, dabei subtil von Viktor Soos am Klavier begleitet, mehrere Lied-Zyklen. Deutlich und warm timbriert „Meine Liebe ist grün“ von Johannes Brahms mit lebhafter Emotion, idyllisch die „Unbewegte, laue Luft“ und dramatisch „Der Tod, das ist die kühle Nacht“. Kontrastiv die hektische „Begegnung“ und „Der Knabe und das Immlein“ in gespreizten Intervallen von Hugo Wolf. Überraschend angenehm sowohl die Auswahl als auch die Interpretation zweier Lieder von Xaver Scharwenka, durch slawischen Temperament-Stil „In deinem Herzen“ und gedämpft-betrachtend das „Sonnenlicht“, superb. Danach noch hochgespannte Sentiments beim „König von Thule“ und der „Lorelei“-Alptraum, wie ihn sich Franz Liszt vorgestellt hat. Versöhnend, gewissermaßen, brachte Juliane Sandberger zum Abschluss das Brahms-„Ständchen“ und den Wunsch „Von ewiger Liebe“, romantischer Standard, mit Würde vorgetragen.

Ein eklatanter Kontrast danach waren Die Nixen, ein Frauen-Streichquartett (Rahel Rilling & Katharina Wildhagen, Violinen; Kristina Menzel-Labitzke, Bratsche und Nikola Spingler, Cello), das sich Crossover als Stilmix zum Prinzip nimmt: eine Passacaglia von Georg Friedrich Händel in diversen Timbre- und Groove-Variationen plus ein Michael Jackson-Song inklusive Moonwalk. „Shapes Of Bach“ integrierte Barock-Achtelfiguren und einen Sting-Song, dann noch eine Stippvisite beim Tango Argentino und bei „Rusalka“-Märchenmelodik (aus der Antonín Dvořák-Oper) sowie ein Popsong mit perkussivem String-Tapping, die jeweils kurz angesagt wurden. In Tüll-Röcken verschiedener Rosé-Abstufungen, schwarzen Glitzer-Oberteilen und High Heels waren die Damen stets in Bewegung und verbreiteten gute Laune. Sie haben das Publikum zwar nicht zum Schunkeln, aber zum Mitklatschen gebracht.

Zum Finale trat zunächst das JAC-Trio auf (der Name ist ein Akronym der Vornamen: Jan Baruschke, Violine, Annette Töpel, Klavier und Cem Cetinkaya, Cello) und präsentierte mit dem Mozart-d-Moll Allegro (ein von Abbé Stadler vollendetes Fragment) ein klassisches Echo der Trio-Beziehung in munterer Konversation und frivoler Rhetorik. Dagegen triefte das „Trio élégiaque“ von Sergej Rachmaninoff durch Romanzen-Melodik mit Cello-Schluchzern und wurde aus vitaler Stimmführung zu vermollter Elegie. Die „Türkischen Melodien für Klaviertrio“ von Michael Töpel hatten aparte Kolorits und swingende Tanzenergie, wobei Violin- und Cello-Melismen mit sporadischen Klavierblitzern erhellt wurden oder sich in Arabesken aus exzentrischen Intervallen umrankten. Orientalische Timbres formten sich also zum famosen Tanz, dessen Elan bei der Zugabe noch gesteigert werden konnte: die Polka von Johann Strauß jr. war einfach fesch.

Den Kehraus machte das junge ClariNoir Trio aus Lübeck. Einige Klezmer-Motive als Klarinetten-Antiphone intonierten Ivo Ruf und Nicolai Gast bei ihrer Hommage ans Idol Giora Feidman auf dem Weg vom hinteren Saal auf die Bühne, wo sich ihre Prozession in rasantem Tempo plus Klavier zur Fiesta entspannte. Diesen starken Impulsen folgte ein filigranes Mozart-Divertimento mit drei Klarinetten, dann eine musikalische Saga mit zwei Klarinetten, die sich nach Doina-Intro zum heftigen Tanz mit Swing-Improvisationen entwickelte. Der „Night Train To Brooklyn“ fuhr mit Vollgas, nur wenigen Ritardandi, durchs nächtliche New York, wobei en passant die Klang-Luminiszenz glitzerte. Zur gelungenen Überraschung wurde die Uraufführung der von Ilja Ruf komponierten Suite „Frechdachs“, deren Besetzung, außer mit Klarinetten (inklusive Vater Bernd Ruf an der Bass-Klarinette) noch um das JAC-Trio erweitert war: sie begeisterte durch effektvolle Dramaturgie aus Groove und Wechseln der Instrumentengruppen das Auditorium – ein toller Erfolg!

Die knappen Moderationen von Jürgen Feldhoff, gespickt mit Anekdoten, etwa: „Wie komme ich ans Konservatorium? – Üben, üben, üben“, gefielen dem Publikum. Eine Zugkraft, wie sie aus der Autorität und vor allem dem Charisma von Evelinde Trenkner resultierte, hatte der Neustart allerdings (noch) nicht, vieles schallte über leere Stuhlreihen. Erst am dritten Abend war der Saal einigermaßen gefüllt. Dessen ungeachtet haben die beteiligten Ensembles überzeugendes Niveau geboten, sodass Bernd Ruf doch sagen konnte, das Erbe von Evelinde Trenkner ist angenommen, und Jürgen Feldhoff versicherte, dass auch im nächsten Jahr wieder ein Lübecker Kammermusikfest stattfinden wird.

© Hans-Dieter Grünefeld in „Lübeckische Blätter 2023/12 S.193 ff.“

REZENSION der Lübecker Nachrichten - 4. Juni 2023

© Lübecker Nachrichten, Rezension vom 4. Juni 2023, Kammermusikfest-Lübeck
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